Bild 106 + Variante 7
 Aus der großen Reihe von Gemälden Ulrich Leives zum Jakobskampf wähle ich diese beiden aus, weil sie für mich etwas ganz Besonderes aussagen.
Das erste Gemälde steht in der klassischen Tradition der bildlichen Wiedergabe des Geschehens. Man erkennt den Engel, man sieht Jakob ihm anhängen. Während andere Gemälde aber die beiden im verbissenen Handgemenge zeigen, ist hier der Kampf schon entschieden. Jakob umfasst den Engel bei anbrechender Morgenröte, wie ein Kind, das sich an seine Mutter schmiegt. „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn“ ist jetzt erfüllt; Jakob ist zwar für den Rest seines Lebens an seiner Hüfte verletzt, aber sein Gesichtsausdruck sagt, dass er sich gesegnet fühlt. Er bekommt jetzt den neuen Namen „Israel“, das heißt „der Gottesstreiter“, weil er im Kampf mit Gottes Engel obgesiegt oder jedenfalls standhaften Widerstand geleistet hat.
Das zweite Gemälde lässt uns tiefer in das eigentliche Geschehen hineinschauen. Hier ist das Erschrecken sichtbar, welches das Gesicht Jakobs zeichnet, als er inne wird, mit wem er die Nacht durchgekämpft hat. Er wirkt erschöpft und erleichtert zugleich.
 Warum erleichtert? Um das zu verstehen, muss man kurz den Kontext erwähnen. Jakob war ja als junger Mann vor seinem Zwillingsbruder Esau geflohen, weil er diesem durch Betrug den väterlichen Segen geraubt hatte und dieser ihm darauf nach dem Leben trachtete (siehe Bild 96). Nun steht Jakob vor einer erneuten Begegnung mit seinem Bruder und die Angst überfällt ihn, wie diese Begegnung wohl ausfallen werde? Der nächtliche Kampf mit dem Engel ist also ein äußeres Zeichen dessen, was innerlich in ihm vorgeht.
 Was mir nun besonders auffällt an Leives Bild ist die Tatsache, dass die beiden Männer, Jakob und der Engel, einander sehr ähnlich sehen. Handelt es sich etwa um die gleiche Person? Dann könnte man folgende Auslegung wagen: der Engel ist der Teil Jakobs, den er in seiner Jugend von sich abgespalten hat. Es ist der heile, der gute Jakob vor seinem Verrat am Bruder. Diesen Teil von sich muss er nun wieder zurückholen, in sich integrieren, sozusagen sich mit sich selbst versöhnen, um dem Bruder begegnen zu können. Er erkennt sich selber in seinem Gegenüber und umgreift darum zärtlich das wiedergefundene liebe Gesicht. Die Erlösung ist gelungen. Mit dem Bruder wird er sich am nächsten Tag versöhnen (Bild 107).
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